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Queer Cinema 2013
die schwul-lesbischen Kinocharts
26.01.2014 [Johannes Jarchow]
 
WENN SCHON NICHT IM LEBEN, DANN WENIGSTENS IM FILM

Das schwul-lesbische Kino ist und bleibt eine Randerscheinung. Zumindest kommerziell. Durch das Outing von Profifußballer Hitzlsperger ist der Homo Homo Sapiens gerade wieder in aller Munde. In den Medien findet eine regelrechte Zwangsbeschallung mit dem Thema statt. Das ist richtig und wichtig. Ins queere Kino verirrt sich aber deswegen niemand, der nicht auch ohne Hitzlsperger da gelandet wäre.

Der aktuell erfolgreichste queere Film BLAU IST EINE WARME FARBE dümpelt fast unbemerkt auf Platz 20 der aktuellen Kinocharts, wird aber immerhin demnächst die 100.000-Zuschauer-Marke knacken. Das haben 2013 nur zwei andere lesbisch-schwule Produktionen geschafft (SIDE EFFECTS und LIBERACE).

Rechnet man alle Besucher der zehn erfolgreichsten queeren Filme 2013 zusammen, kommt man auf 843.000. Das ist ungefähr das Niveau, was der erfolgreichste Mainstream-Film
FACK JU GÖHTE am Startwochenende erreichte. Nähme man den bayerischen Überraschungserfolg DAMPFNUDELBLUES in diese Milchmädchenrechnung mit auf, schlüge man mit 1,3 Millionen Zuschauern immerhin den Besucherrekord am Startwochenende von HANGOVER 3. Komm, lass uns ziehn nach Konjunktiv! Mit 0,5 Mio. Zuschauern ist DAMPNUDELBLUES der erfolgreichste Film mit homosexueller Nebenthematik. Genauer gesagt sind hier zwei Tote schwul. Vermutlich Selbstmord und Überdosis. Des einen Sperma steckt in der Leiche des anderen. Queer Cinema ist das nicht wirklich, dementsprechend ohne Berücksichtigung bei unseren Kinocharts.

SIDE EFFECTS hat im Grunde auch nur eine lesbische Nebenthematik, allerdings mit deutlich mehr Screening Time und lesbischen Bildern. Problematisch an dieser (mit Platz 1 zudem exponierten) Stelle ist, dass allein die Zuordnung ins queere Filmgenre als fieser Spoiler ausgelegt werden könnte. Aber dieses Dilemma ließe sich nur durch unhöfliches Verschweigen lösen. Bleiben wir bei den harten Fakten. Trotz eines imposanten Casts (Jude Law, Channing Tatum, Catherine Zeta-Jones und nicht zuletzt Regisseur Steven Soderbergh) und einer guten Bewertung durch Zuschauer und Kritiker verpasste man knapp eine Platzierung in den Top 100 der Kinocharts 2013. Sicherlich eine Enttäuschung, aber weniger für den schwul-lesbischen Film, mit dem man ja als Zuschauer nicht hatte rechnen können.

Einen brauchbareren Indikator für den Stellenwert des Queeren Kinos im kommerziellen Spielbetrieb liefert eher schon unsere Zweitplatzierung, die dank Starbesetzung und Vertrauen der Kinobetreiber einen beachtlichen Run hinlegte. In der ersten Woche lief
LIBERACE in 119 Kinos (zum Vergleich: DER HOBBIT hatte beim Start fast 900 Kinos auf seiner Seite) und kam auf knapp 50.000 Zuschauer (DER HOBBIT hatte 1,2 Mio.). Die Zahl der Kopien blieb lange Zeit recht hoch, aktuell ist LIBERACE immerhin in der 15ten Woche und kommt auf über 200.000 Besucher. Das klingt viel. Doch wenn man das zu den großen Namen Michael Douglas und Matt Damon und der gleichgeschaltet jubelnden Kritik ins Verhältnis setzt, ist das nicht überragend. BILD machte daraus gar die Schlagzeile: Trotz Glamour und Medienzirkus - Warum will niemand „Liberace“ sehen?
 
Liberace
 
Kurz mal weg von Zuschauerzahlen und Banknoten. Wenn man sich so umschaut, welche Filme das Feuilleton zu den besten des Jahres zählt, unabhängig von Genre und sexueller Präferenz, werden zwei französische Filme immer wieder genannt: BLAU IST EINE WARME FARBE und DER FREMDE AM SEE. Letztgenannter wurde erst beim hochspannenden Fotofinish, und da sind wir doch wieder bei der Kinokasse, von ICH FÜHL MICH DISCO aus unserer offiziellen Queer Cinema Jahres-Top10 gekickt.

Gerade als
BLAU IST EINE WARME FARBE in Cannes mit so vielen Goldenen Palmen wie kein Film je zuvor dekoriert wurde, demonstrierten auf Frankreichs Straßen zehntausende Retrograde gegen die Einführung der Homo-Ehe - einer der tragikomischsten Momente im letzten Jahr. Bei der gerade vor wenigen Tagen stattgefundenen Verleihung der Golden Globes in Los Angeles war LA VIE D'ADÈLE in der Kategorie "Bester fremdsprachiger Film" nominiert, unterlag schlussendlich aber dem ebenfalls hochgelobten italienischen Drama LA GRANDE BELLEZZA - DIE GROSSE SCHÖNHEIT. Bei den Oscar-Nominierungen ging Adèle leer aus. Dafür wurde sie bereits vom Verband der internationalen Filmkritik FIPRESCI zum Film des Jahres ausgerufen.
 
Blau ist eine warme Farbe
 
FREIER FALL sorgte bereits bei seiner Premiere auf der Berlinale im Februar für Aufsehen. Knut Elstermann von Radio Eins bezeichnete die beiden Hauptdarsteller Max Riemelt und Hanno Kofler als Traumpaar der Berlinale. Vergleiche mit BROKEBACK MOUNTAIN machten die Runde. Mit über 15.000 Kinobesuchern (inkl. Preview) am Startwochenende im Mai gelang FREIER FALL "nur" der sechst erfolgreichste queere Kinostart 2013. Alle Vorplatzierten hatten allerdings deutlich mehr Kopien im Umlauf. Beim Besucher-Durchschnitt pro Kino hatte FREIER FALL die Nase vorn. Zudem lief er auch sehr erfolgreich auf internationalen Festivals. Bei den DVD- und BluRay-Verkäufen führt FREIER FALL seit Monaten aufgrund der zahlreichen Vorbestellungen die Queeren DVD-Charts an.
 
Freier Fall
 
Zu den Flops des Jahres gehören zweifelsohne die starbesetzten lesbischen Produktionen ALBERT NOBBS, PASSION und DIE NONNE. Und auch QUELLEN DES LEBENS, der mit Moritz Bleibtreu und Jürgen Vogel die Zugpferde des deutschen Films ins Rennen schickte. Da hatten sich alle Beteiligten sicherlich mehr erhofft als Platz 4 in einer Subsparten-Hitparade. Ähnlich wie bei SIDE EFFECTS kann man aber auch hier das Verqueere nicht zum Sündenbock machen. Die kleine lesbische Affäre von Meret Becker und Sonja Kirchberger wurde erst im Kino offenbart.

Besonders traurig ist das grotesk schlechte Abschneiden von ALBERT NOBBS. Glenn Close hat sich jahrelang für dieses Herzensprojekt stark gemacht, selbst produziert und das Drehbuch mitgeschrieben und am Ende eine finanzielle Bruchlandung hingelegt. Das weltweite Einspielergebnis hat nicht einmal die Kosten der Realisierung gedeckt.
 
Albert Nobbs
 
Diese Hürde hat DALLAS BUYERS CLUB schon beim Kinostart im November in den USA genommen. Die beiden Golden Globes für den Hauptdarsteller Matthew McConaughey und den Nebendarsteller Jared Leto sowie die sechs Oscar-Nominierungen (u.a. in der Hauptkategorie "Bester Film") werden auch dem deutschen Kinostart im Februar helfen.

Ein weiterer queerer Kassenschlager könnte das am 30. Januar startende Beat-Generation-Drama KILL YOUR DARLINGS mit Harry-Potter-Daniel-Radcliffe und dem schönen Newcomer Dane DeHaan werden, das beim Sundance Film Festival immerhin für den Grand Jury Prize nominiert war. Feuilleton und Zuschauer waren überwiegend angetan, das Box Office Ergebnis blieb trotzdem sehr schwach.

Das queere Kinojahr fängt in jedem Fall turbulent an. Bleibt nur zu wünschen, dass Filmemacher im Angesicht ernüchternder Zahlen und homophoben Gegenwinds nicht den Mut verlieren, queere Stoffe zu verfilmen. Denn diese Welt braucht nichts dringender als grenzenlose Liebe. Wenn schon nicht im Leben, dann wenigstens im Film.

  QUEERE KINOCHARTS 2013

01. Side Effects (242.082 Zuschauer)
02. Liberace (204.195)
03. Blau ist eine warme Farbe (118.145)

04. Quellen des Lebens (90.461)
05. Freier Fall (78.144)
06. Fliegende Liebende (54.417)
07. 7 Tage in Havanna (29.838)
08. Die Nonne (22.499)
09. Passion (17.730)
10. Ich fühl mich Disco (14.429)

Letztes Update: 13.02.2014
 

     

Bilder: Freier Fall - © Edition Salzgeber, Blau ist eine warme Farbe - © Alamode, Liberace - © DCM, Albert Nobbs - © Edition Salzgeber